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Ein Plädoyer für massive Arbeitszeitverkürzung
Wenn ältere Leute davon erzählen, dass es einmal so etwas wie Vollbeschäftigung gab und die Aussicht, sich durch Arbeit lebenslang seinen Unterhalt zu sichern, so klingt das wie aus einer fernen, längst vergangenen Zeit. Opas Welt kehrt in der Tat nicht wieder. Seit langem schmelzen sichere Arbeitsplätze wie Schnee an der Sonne und in den kommenden 20 Jahren wird jeder zweite Job in Europa und den USA verschwinden, weil künstliche Intelligenz und Roboter das viel besser und billiger können.
Aber warum macht uns das eigentlich Angst? Es wäre doch vielmehr Freude angesagt. Schließlich träumen Menschen seit Jahrtausenden davon, ihr Leben mit Angenehmerem verbringen zu können als ausgerechnet mit Arbeit. Doch nur den wenigsten war es vergönnt, dem Zwang zu lebenslanger Schufterei zu entfliehen. Das Schöne ist, dass das heute alle könnten. Denn Technologie und Wissenschaft ermöglichen uns, mit immer weniger Arbeit immer mehr Reichtum zu schaffen.
Doch ausgerechnet jetzt sollen wir immer länger arbeiten. Welch Skandal: Weniger Arbeit denn je wäre für ein gutes Leben nötig, aber die Überstunden häufen sich, immer mehr Leute müssen in ihrer angeblichen Freizeit arbeiten, der Markt verlangt uns grenzenlose Flexibilität ab. Gehören wir zu den nicht mehr ganz Jungen, bekommen wir – vielleicht – einmal mit 67 oder 70 eine Rente, die immer niedriger wird. Gehören wir zu den ganz Jungen, so ahnen wir, dass wir nie eine sehen werden.
Hauptsache Arbeit? Oft wollen wir gar nicht so genau wissen, an was wir da eigentlich den ganzen Tag so arbeiten. Vieles davon ist fragwürdig, überflüssig, ja schädlich. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum wir Angst haben müssen vor dem Verschwinden der Arbeit: Die Wirtschaft, von der wir abhängen, ist verrückt organisiert. Die einen sollen arbeiten bis zum Umfallen, die anderen werden zum überflüssigen Menschenmüll erklärt, sprich arbeitslos.
Massive Arbeitszeitverkürzung für alle ist das Gebot der Stunde. Und sie wäre durchaus machbar, ohne dass wir auf Lebensqualität verzichten müssen. Damit das funktioniert, müssen wir allerdings aus einem Gedankengefängnis herausfinden. Es gilt, sich von der Vorstellung zu verabschieden, das ewige Weiterdrehen am Hamsterrad des „Arbeiten-gehen-müssen-um-Geld-zu-verdienen-weil-wir-sonst-nicht-leben-können“ garantiere uns eine gute Zukunft. Das Gegenteil ist der Fall.
Lothar Galow-Bergemann ist nach 40 Jahren Arbeit endlich in Rente. Er arbeitete vorwiegend in der Krankenpflege, ist verdi-Mitglied und war freigestellter Personalrat in zwei Großkliniken. Seine schönsten Arbeitstage erlebte er, wenn er zusammen mit seinen KollegInnen gestreikt hat. Heute schreibt er u.a. für Konkret, Jungle World und emafrie.de